Der Männerchor Kollbrunn auf „Geheimmission Beatenberg“

Der 1. Oktober 2022, der Tag der Vereinsreise, wurde bereits im März durch die körperechte Generalversammlung am Kalender festgezurrt. Je näher der Tag rückte, desto mehr nahmen Neugier und Spannung, wohin die heurige Reise gehen würde, zu. Selbst ein gekniffener Sänger hätte es nicht verraten können. Das Geheimnis blieb in der Schirmlade des Reiseführers Giuseppe Palladino, dem die Planung anvertraut worden war. Ohne Lied, kein Chor in die Ferne zieht. Ein vorgetragener „Bajazzo“.

Um sieben Uhr stellte der Fahrer Martin den Motor des modernen Nüssli-Cars wieder an. In einem zügigem Tempo ging’s zum Tösstal hinaus, über sanfte Hügel in südlicher Richtung. Später: „Ah, der Chälrütirank“, hätte es nicht mancher besser gewusst wie der Sänger mit seiner Zwischenbemerkung. Ab Interlaken führte die Strasse wieder bergan. Ein paar Serpetinen noch, dann machte der Reiseleiter klar: „Nun sind wir in Beatenberg“. Der Car fuhr jedoch weiter, war schon ein gutes Stück über den langgezogenen Ort hinausgefahren. Da hielt Martin das Fahrzeug plötzlich an. Auf einem umwaldeten, fast leeren Parkplatz. „Wo sind wir da?“, fragten sich die meisten. Der kluge Giuseppe Palladino zeigte nur den Weg: „Auf jener Naturstrasse dort geht es cirka zweihundertfünfzig Meter hinunter, darum meine Empfehlung für gutes Schuhwerk“.

Das sich lüftende „Geheimnis“

Eine Tafel am Wegrand klärte ein Stück weit auf: Sie befinden sich auf einer militärischen Anlage. Nachdem das letzte Grüppchen am Ende des Wegstücks, auf einem kleinen Vorplatz angekommen war, sich der gut gelaunte Sänger-Korona im Halbkreis vor einer riesigen, mit einem Tarnnetz überspannten Tür aufgestellt hatte, sprach ein Herr im besten Alter das Grusswort in einem lebhaften Berndeutsch. „Ihr befindet euch hier vor dem Artilleriewerk Waldbrand in Beatenberg. Diese Festung war und ist eine der grössten in der Schweiz und spielte während den Zeiten des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs eine Rolle“, führte der Festungsführer sinngebend aus. Daraufhin pickte er sich den Sänger mit der roten Jacke heraus, um diesen zur Frage, wie viele Festungen die Schweiz in jenen Zeiten in  etwa gebaut habe, raten zu lassen. Etwas perplex, gab der Sänger seine Zahl mit 120 an. Zu tief, stellte der Mann mit Fachwissen fest. Und gab dem Sänger mit der beigen Jacke eine zweite Möglichkeit. Um die 200, lag dessen Angebot leicht erhöht. Immer noch viel zu tief, sagte der Mann im gemütlichen Berner Dialekt, und setzte dem Rätselraten gleich ein Ende. Rund 26‘000 Festungen wurden im Lande erstellt. Als Führungsaufsicht müsse er die Geradheit wählen: Es gäbe Leute, die in Räumen ohne Tageslicht das Zeitgefühl verlieren, und solche, die an Klaustrophobie leiden, besser nicht hineingehen sollten. Die ganze Anlage wurde von Herrn Philipp Studer, ebenso ein Berner, in dem Zustand übernommen, wie sie die Schweizer Armee per Ende 1998 verlassen hatte. Dem neuen Eigentümer schwebte die Idee eines Festungsmuseums vor, wie etwa Burgen und Schlösser aus früheren Epochen erhalten werden und der Oeffentlichkeit heute zugänglich sind.

Wie es überhaupt zum Bau des Artilleriewerks Waldbrand gekommen war? Man müsse hierfür den Uhrzeiger der Zeitgeschichte zurückdrehen, erklärte der Festungsführer. Die sogenannten „Achsenmächte“ Deutschland, Italien und Japan waren im Zweiten Weltkrieg auf Eroberung aus. Am 22. Juni 1940 war Frankreich gefallen, die Schweiz somit von den Achsenmächten eingeschlossen. Am 25. Juli 1940 bestellte der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, die höheren Offiziere zum Rüthli-Rapport, zu diesem aus heutiger Sicht militärgeschichtlichen Ereignis auf die Rüthliwiese. Der Reduit-Plan wurde dort bekannt gemacht, für den Fall eines Angriffs. Die Operationsbefehle hierzu erfolgten unmittelbar. Wehrhaftigkeit und Unabhängigkeitswille fand einen breiten Rückhalt im Bewusstsein des öffentlichen Lebens. Den Bauauftrag für die Artilleriewerke Waldbrand und Legi, welches über rund 600 Treppenstufen zu erreichen wäre, aber nicht zugänglich ist, führte die Unternehmung Frutiger Söhne & Cie aus Oberhofen aus. Diese Festungsartillerieabteilung hatte einen Gesamtbestand von 450 Mann.

Nach den historischen Ausführungen betraten die Sänger wie auch der Fahrer Martin den bogenförmigen Hauptstollen. Nachdem die gewaltige Tür zurück ins Schloss gefallen war, hätte bei einem oder andern das Gefühl von Abgeschiedenheit aufkommen können. Ohne Elektrifizierung wäre es „ein Ritt in eine menschenerschaffene Unterwelt“ geworden. Nicht umsonst gab die Führungsaufsicht den Rat, als Gruppe zusammenzubleiben. Damit sich keiner in einem Seitenstollen verirren sollte. An den Geschützständen vorbei, windeten sich die Stollengänge zu den Ess- und Schlafräumen, sowie zur Küche mit drei Kippkesseln. Auch ein Sanitätstrakt mit Operationssaal wurde damals eingerichtet. Mit der Aussenwelt blieben sie im Innern der Festung über eine Telefonanlage verbunden. Telefonisten stellten die internen und externen Verbindungen mit den sogenannten Stöpseln her. Und gerade aus heutiger Sicht bemerkenswert ist, dass die Geschützmannschaft in der Festung nicht an einen „Kollektivmaskenschutz“ gebunden war, weil das Atmen von Frischluft in den Kampfständen durch ein Gebläse gewährleistet werden konnte.  Auf Wunsch des Festungsführers sang der Männerchor Kollbrunn bei spärlichster Beleuchtung, unter einem Deckenrund, das Lied „Sängertrost“. Beim Weg zurück ermöglichten aufgemachte Türen Blicke auf verschiedenste Militärfahrzeuge, was bei manchen Sängern Erinnerungen an die eigene Wehrpflicht wachrief. Als nicht Mitglieder der Festungsbesatzung durfte der Humor des urchigen Berners zutreffen: Die Sänger sind hiermit mit Verdacht aus dem Artilleriewerk Waldbrand entlassen. Das grosse Portal ging auf: Tageslicht wieder, und frisch die Luft für die Atemwege. Der Reiseleiter Giuseppe Palladino zählte seine Sänger, bevor sie wieder in den Car stiegen. Der Heilige Beatus hatte den Drachen geschlagen.

Nächster Halt: Interlaken. Weiter mit Schiff.

Giuseppes Plan ging auf. Fahrer Martin lenkte den Car durch die engen Strässchen des Bahnhofs West geschickt auf den freigewordenen Carparkplatz. Ein kühles Bier im Bernerhof, das war das Verlangen der Stunde. Und wurde im leichten Regen mit den feinen Tröpfchen rasch erreicht. Das scharfe Auge des Sängers Beat erblickte das Alphorn an der Wand. Er nahm das lange, konische Rohr vom Nagel und schenkte dem Bernerhof mitsamt seinen Gästen ein „Echo vom Appenzeller“. Fehlendes Mundstück hin oder her.

Mit dem vielleicht etwas veralteten, aber stets beliebten Ruf aus der Seemannssprache, „Schiff ahoi“ – und einem Schuss „Blüemlisalp“ setzte die Vereinsreise über grün-blaue Wogen hinfort. Die Tische im Speisesaal mit der Sorgfalt gepflegter Gastfreundschaft einladend gedeckt. Ein Rindshackbraten mit Champignonrahmsauce sind wie aufeinander abgestimmte Sonatenklänge. Erhoben das Glas: Es lebe der „Blüemlisalp-Wy“ –  An die Pforten der Musen durften die Sänger nach Vanille und Walderdbeeren klopfen. Es kam, wie es kommen musste, das Wegstück über Wasser an der Anlegestelle Thun sein Ende fand. Fahrer Martin hielt den Car in der Nähe zum Einsteigen bereit.

Gut und sicher steuerte Martin das Fahrzeug zum Ort zurück, wo die Vereinsreise 2022 in früher Morgenstund‘ ihren Anfang genommen hatte. Zufriedene Miene beim Reiseleiter Giuseppe Palladino. Er hatte das „Geheimnis“ erst gelüftet, als die Zeit dafür gekommen war. Die Sänger dürfen ihm ein Kränzchen winden.

Der traditionelle Ausklang für die Nimmermüden fand im Rest. Wiesenthal statt.

Der Aktuar: Fritz Zesiger
Bilder: Fritz Zesiger, Cyrill Krummenacher, Martin Burkart

  • DSC_0624
    DSC_0671
    DSC_0625

View more photos →